Europa braucht wieder eine Renaissance
Ein
Plädoyer für die Erneuerung der Werte der
Aufklärung
Europa braucht wieder eine Renaissance. Diesmal aber eine Wiedergeburt
im Sinne der Erneuerung der Werte der Aufklärung. Deren
Wurzeln liegen durchaus in der Renaissance, die auch das
philosophische Denken beflügelte. Es schmerzt zu sehen, wie
diese Frieden und
Wohlergehen stiftenden Werte in jüngster Zeit mit den
Füßen getreten werden. Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit sind der geläufige Kern dieser
Werte.
1 Sie wurden ausgehend von
der Französischen
Revolution für das Volk hart erkämpft und
später zur offiziellen Losung Frankreichs. Aber als eine
griffige Formel der
europaweiten Aufklärung geraten Freiheit, Gleichheit
und
Brüderlichkeit, wie auch das deutsche Pendant
Einigkeit und
Recht und Freiheit, scheinbar ins Abseits, wo sie doch angesichts einer
zusehends multikulturellen Realität als einigendes
Band
dringend gebraucht werden. Mag sein, dass im Namen
dieser Werte
Unheil
verrichtet wurde, jedoch bleibt ihr positiver, überkulturell
einsichtiger Sinngehalt
unvergänglich, wie auch z. B. die Leuchtkraft der
oft
missbrauchten Liebe.
Wieso ein gemeinsames Hochhalten gerade dieser Werte entscheidend ist,
wird
deutlich werden, wenn zunächst an diesen
Sinngehalt erinnert wird. Danach wird der Niedergang der drei Werte,
deren Verwirklichung ohnehin niemals abgeschlossen war, samt der
Gründe und dessen Folgen aufgezeigt.
Freiheit,
Gleichheit, Solidarität
Mit Freiheit ist das ganze Spektrum des Rechts aus Selbstbestimmung
angesprochen. Angefangen beim Freisein von erniedrigender
Versklavung, über die Freiheit der Weltanschauung bis hinzu
schlichter Unbekümmertheit, sodass man nicht aus
Ängsten oder Konformitätsdruck an der Entfaltung der
eigenen Person gehindert wird. Unter Gleichheit ist zunächst
die Gleichbehandlung vor dem Gesetz gemeint, sodass
hinsichtlich gewährter Rechte Gleichberechtigung
herrscht.
Hierfür muss zum einen die Legislative unparteiisch,
zum anderen die Justitia blind sein. Die gewährten Rechte
zielen
sodann auf eine soziale
Wirklichkeit hin, in der eine gerechte Güter- sowie
Lastenverteilung – soziale Gerechtigkeit – und
Chancengleichheit vorliegen. Brüderlichkeit,
geschlechtsneutral besser Solidarität genannt, stellt
einen gesellschaftlichen Schulterschluss dar. Sei dies das
Einstehen
für gemeinsame Interessen, die Hilfsbereitschaft, oder
bloß das Verständnis für andere, stets ist
die menschliche Suche nach Gemeinsamkeiten bzw. gemeinsamen Werten der
Antrieb, die auch Feinde einschließen kann.
Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind ihrem Wesen nach
miteinander verwandt und bedingen einander. Zunächst
verwirklicht sich Freiheit in Bezug auf die Teilhabe an Gütern
und der Chancengleichheit. Entsprechende Freiheitsrechte
bedürfen nun der
tatsächlichen
Gleichberechtigung, damit Menschen mit schlechterer
Ausgangslage nicht das Nachsehen haben und etwa im
Existenzkampf verharren.
Für
Stärkere bedeutet dies Einschnitte (z. B. Kapitalbesteuerung),
für Schwächere
Zugeständnisse (z. B. Mietzuschuss). Der
Einschnitte bedarf es
auch unter Gleichstarken, denn dürften sie ungehemmt
intolerant sein, drohen ebenso ausufernde
Konflikte zu Lasten der
Freiheit aller; nur Intoleranz selbst darf
nicht toleriert werden. Solidarität hingegen kann eine
gerechte Güterverteilung herbeiführen und
Gruppen zu
Freiheit verhelfen. Viel wichtiger ist aber, dass solidarische
Übereinkunft darüber herrscht, wo Grenzen
der Freiheit sind, und dass Gleichheit, z. B. mithilfe des
Rechtsstaats,
auch durchzusetzen ist. Letztlich hängt von der
Solidarität alles ab, weil diese die Gleichheit bedingt, die
ihrerseits die Freiheit ermöglicht. Folglich werden dieselben
Gründe, die der Solidarität schaden, auch bei den
anderen Werten eine Rolle spielen.
Wie eingangs
gesagt, zielen alle drei Werte letztlich gemeinsam auf Frieden und
Wohlergehen als noch grundlegendere Werte
menschlicher Existenz ab.
2 Hierfür
müssen Freiheit,
Gleichheit und Solidarität nicht unbedingt maximal
ausgeprägt sein. Auch ein aufgeklärter Absolutismus
oder ein weiser König Salomon vermag sich für Frieden
und Wohlergehen zu verbürgen und das Wohlwollen des Volkes
gewinnen, in dem die drei Werte ausreichend
berücksichtigt werden. Wenn aber wie im
vorrevolutionären Frankreich Unfreiheit vorherrscht,
Unrecht regiert und es an Solidarität mangelt,
sind Frieden und Wohlergehen nun einmal utopisch und
Aufstände nahezu zwangsläufig.
Dem Ideal einer Gesellschaftsform dürfte indessen eine
freiheitliche, egalitäre und soziale Demokratie am
nächsten kommen. Nicht nur knüpft diese unmittelbar
an der Wertetrias an, als Demokratie bindet sie zudem friedenssichernd
die Regierung an den Volkswillen. Vor diesem
Hintergrund sind die zu erörternden Bedrohungen für
die Werte
der Aufklärung auch immer als Bedrohung der Gesellschaftsform
in Deutschland, die freiheitlich-demokratische Grundordnung,
zu sehen,
die auf dem Boden der Aufklärung steht.
Die
Wertetrias
auf dem Rückmarsch
Freiheit ist immer dort bedroht, wo sich Intoleranz
ausbreitet. Diese ist in allen radikalen
Kreisen vorzufinden, so bei politischen Links- oder
Rechtsradikalen,
religiösen Fundamentalisten, oder rücksichtslos auf
Eigennutz
bedachten Interessensgruppen. Extremisten meinen gar,
anderen ihr Recht auf Leben absprechen zu können, wie
die
NSU-Mörder oder religiöse Fanatiker. Allen
Gruppen gemein sind ein gewisser Egoismus und ein
selbstgerechtes
Weltbild, woraus auch ohne Fanatismus allseits
freiheitsberaubende Konflikte erwachsen. Diese bereits
erwähnte altbekannte Einsicht haben offenbar auch die
radikalliberalen Homo-oeconomicus-Anbeter vergessen.
Anstatt die Freiheit in all ihren Facetten zu verteidigen,
predigen sie
einen
ungezügelten Markt mit egoistischen Akteuren als
Allheilmittel
und nehmen so die Unterdrückung Schwächerer
in Kauf. Schlimmer noch, ihre Gunst gilt den
größten Nutznießern: Kapitaleigner.
3
Von der Denkweise der Radikalliberalen
wurden inzwischen auch andere befallen. So gehören
ökonomische Aspekte, was Arbeitsplätze,
Sozialleistungen oder Wohlstand angeht, zum Standardrepertoire
rechter
Argumentation. Ähnlich ökonomisch getrieben
erscheinen manche Linken, wenn sie z. B.
beim Aufzeigen vermeintlicher Ungleichheit jede noch so kleine
Diskrepanz einseitig aufgreifen und als monetären
Nachteil beziffern
wollen. Zweifellos ist die
gesellschaftliche Mitte ebenso infiziert. Karriereoptimierung,
Materialismus,
Konkurrenzdenken und Neid sind wesentliche Motive im Leben des
Durchschnittsbürgers. Nicht nur fördert dies
Konflikte, zudem erfolgt eine Selbstversklavung im Kerker des
Egozentrismus.
Unter Intoleranten befindet sich die populistische Rechte
im
merklichen Aufschwung. Zwar sind rechtspopulistische
Regierungen noch
die Ausnahme in europäischen Staaten, dennoch
verheißt ein weiteres Erstarken der sich
rassistisch, homophob, nationalistisch und rundum
rückständig gebenden Rechtspopulisten nichts
Gutes
für
freiheitliche Errungenschaften. Paradoxerweise ist die
europäische Einigung eine wesentliche Ursache für
deren Erstarken, die doch für
Völkerverständigung und Freiheiten wie
grenzenloser
Handel oder Personenfreizügigkeit steht. Der Einigungsprozess
steht, da
zu überstürzt und
ohne Vertragstreue angegangen, aber zunehmend auf der Kippe,
denn die politische Elite läßt zu oft
berechtigte Kritik abprallen oder gibt sich hilflos, was den mit
der nationalen Karte winkenden
Rechten nutzt.
Zu beobachten ist das zaghafte Entgegentreten der
Intoleranz,
die aus anderen Kulturkreisen entstammt. Hier stehen manche
„sentimentalen
Linken“4 im Weg, die
vor
lauter Gutgläubigkeit oder aus Angst, selbst
intolerant zu sein, sich blind stellen oder gar berechtigte Kritik
bekämpfen. Hieraus erklärt sich etwa, zumindest
teilweise, die langjährige Untätigkeit der britischen
Justiz im Falle des Vergewaltigerrings mit
ethischem Hintergrund oder die Hinnahme der
Vollverschleierung von Frauen, obgleich diese
entwürdigend sei.
5 Die
Würde der Frau muss
offenbar grenzenloser Toleranz weichen. Überhaupt breitet sich
ein Kulturrelativismus aus, der auch die Werte der
Aufklärung infrage stellt. Es stimmt schon, damit nicht die
ganze Welt anmaßend bekehren zu müssen, denn auch
andere haben ihre kulturellen Errungenschaften. Aber
wenigstens Toleranz und Respekt, die anderen entgegengebracht werden,
von diesen nicht
einzufordern,
entbehrt jeglicher überzeugender Begründung. Eher
steckt feige Beqeumlichkeit dahinter.
Parallel zum Erstarken der Intoleranz wird mit Killerphrasen
à
„wer nicht
mit uns ist, ist ein
Rassist/Sexist/Phobiker/Gutmensch/Volksverräter“
die
besonnene Mitte angefeindet. Jeder radikalen Seite ist diese nicht
nah genug bzw. wird gleich verleumderisch in die Nähe
der Gegenseite gerückt, und dies bereits, sobald auch
nur der
Hauch
von Kritik geäußert wird. Schlimmer noch,
regelmäßig sehen sich Vertreter
gemäßigter Ansichten Morddrohungen ausgesetzt, so
neulich Befürworter von
Flüchtlingsheimen oder Kritiker des radikalen
Feminismus
6.
Sodann verstummen viele der Gemäßigten
lieber und
die Meinungsfreiheit bleibt auf der Strecke. Bezeichnend
für die Schwächung der Mitte sind auch gemeinsame
Standpunkte an sich konträrer radikaler Seiten. Beispielsweise
spielt die folgende Forderung radikaler Feministinnen den Islamisten in
die Karten: Werbung möge frei von Sexismus sein, wozu aber
nicht nur das Ablehnen figurbetonter Posen u. ä.
gezählt wird, was noch verständlich ist, sondern
auch
das grundlose Lächeln einer Frau.
7
Verhilft nicht doch etwa
die Vollverschleierung Frauen überhaupt erst zur
Würde?
Gleichheit steht dann auf dem Spiel, wenn ein fairer
Ausgleich berechtigter Interessen ausbleibt. Der Trend zur egoistischen
Selbstbevorzugung, der bereits die Freiheit auch direkt bedrohende
Faktor, ist da kaum hilfreich. Maß der Gleichheit ist die
Güter- und Lastenverteilung. Völlige Gleichverteilung
durch Verzicht auf Eigeninteressen ist individuell besehen nun auch
nicht gerecht,
8 nicht minder ungerecht ist
aber ein starkes
Reich-Arm-Gefälle mit deutlichen Aufstiegshürden. Der
Ruf nach einem rigoros umverteilenden Wohlfahrtsstaat ist
daher abzulehnen, ebenso aber auch das Anzweifeln jeglichen
sozialstaatlichen Ausgleichs, jedenfalls solange auch
Leistungsbereitschaft belohnt wird,
was die unabkömmliche Wertschöpfung sichert. Zur
jeweiligen Kritik gesellt sich eine Bedienungsmentalität bzw.
mangelnde Teilungsbereitschaft und so wird soziale Gerechtigkeit
erschwert.
Wie soziale Gerechtigkeit so leidet auch der Rechtsstaat, der diese und
die Gleichheit überhaupt garantiert, an mangelndem
Rückhalt.
Wiederum sind es egoistische
Auswüchse wie reine Klientelpolitik,
Autoritätenhass oder
allwährende Vorteilssuche, die zur Ausnutzung oder Missachtung
des Rechtssystems führen. Derartige Zustände
fördern sodann einen allgemeinen Vertrauensverlust –
ein circulus vitiosus. Jedoch ist der Staat daran nicht ganz
unschuldig. Verfassungsbrüche, etwa im Falle der
Spionage
für fremde Geheimdienste,
9
und
überwachungsstaatliche Tendenzen tragen dazu wesentlich bei.
Eigennutzstreben an sich muss durchaus noch nicht in Benachteiligung
anderer münden, selbst wenn eine intolerante Haltung
damit
einhergeht. Führt dies dennoch dazu, liegt Diskriminierung
vor. Nebst Egoismus oder Intoleranz können aber auch
bloße Unachtsamkeit oder situative Umstände
ursächlich sein. Ein probates
Gegenmittel sind jedenfalls Quoten, die unfaire Hürden
überwinden helfen. Leider schießen die
gängigen einseitigen Quoten übers Ziel hinaus. Statt
Frauenquote wäre etwa eine Mindestquote für
beide Geschlechter ausgewogener, die in der Praxis
weiterhin Frauen zugute käme. Bevorzugung zwecks
Chancengleichheit ist fraglos legitim, diese aber
pauschal bestimmten Gruppen zuzugestehen und anderen stets unfaire
Vorteile zu unterstellen (Positivdiskriminierung), ist
ungerecht und
lässt die Bevorzugten zu
„Gleicheren“
unter Gleichen werden. Individuelle oder neutralere Ansätze
zumal des
Gesetzgebers sind gefragt.
Nicht nur bei der Güterverteilung kann die absolute
Gleichsetzung von Menschen keine vernünftige
Maßgabe
sein. Natürliche
Ungleichheiten rechtfertigen
Ungleichbehandlungen, wie z. B.Vorrang der Rettung von Kindern, oder
die Rücksichtnahme auf Behinderte, die keineswegs
diskriminierend ist, wie manche Gleichheitsfanatiker
meinen.
10 Entscheidend ist, dass
Chancengleichheit und würdevoller Umgang
herrschen und zumindest die Justitia blind
ist. Beheben oder Verneinen jeglicher individueller Unterschiede in
allen Lebensbereichen würde ja geradezu die Toleranz von
Vielfalt pervertieren. Letztlich obliegt dem
gesellschaftlichen
Konsens, was gleich und ungleich zu behandeln ist, die
Radikalpositionen (z. B. Abstreiten aller natürlichen
Geschlechterunterschiede vs. Biologismus) sollten jedenfalls
ausgeklammert werden.
Ärger Feind der Gleichheit ist die revanchistische
Diskriminierung, womit ein unnützer Kreislauf am
Leben
gehalten wird. Ein Beispiel ist das Abstempeln von
Männern zu
rein
triebgesteuerten, gar von Natur aus bösen Wesen, vor
denen die genetisch edleren Frauen zu schützen seien.
11
Dies ist jedoch
derselbe radikale Biologismus, der einst Frauen an Heim und Herd band.
Als Konsequenz hat der Feminismus
kaum männliche Anhänger und so hält die
Übersexualisierung der Frau unvermindert an, siehe
z. B. die sexy Weihnachtsfrau, die Einzug gehalten hat. Zudem werden
wie gesagt manche machohaften
Parallelkulturen dank blinder Toleranz mit Samthandschuhen angefasst.
Wie auch beim
Kulturrelativismus spielt hier
das Feindbild des
„weißen
Mannes“ hinein, der freilich allen Grund
für dessen Entstehung lieferte. Nunmehr gilt aber alles, was
mit
ihm assoziiert wird, etwa das hiesige Wertesysten, bei Bedarf als
anrüchig. Letztlich ist dies selbst
eine diskriminierende Haltung.
12
Passend dazu führen relativ harmlose Verfehlungen
seinesgleichen wie
bei Tim Hunt zu völliger Überreaktion.
Beklagenswert ist auch die Übernahme oder
Verharmlosung von Falschbeschuldigungen, nur weil diese
Klischees
bestätigen. Das Leid der zu unrecht Beschuldigten wird mit
zunehmender Skepsis echten
Opfern gegenüber teuer bezahlt.
Wer sich und seine Werte übertrieben anzweifelt, folglich
Intoleranz seitens der Protegés duldet, Andere als
diese aber vorschnell beschuldigt und verurteilt, und jede Kritik daran
harsch anfeindet, dem liegt eine echte Gleichheit unter
Menschen wohl kaum am Herzen. Wollte man damit auch nur
„ungleicher“
sein, um Anderen zugefügtes Unrecht gutzumachen, so bleibt es
dabei, Unrecht durch Unrecht heilen zu wollen.
Solidarität ist
ebenfalls auf dem Rückzug. Anstatt zusammen
für Frieden und
Zukunft einzutreten, wenden sich
breite Gesellschaftsteile vom Gemeinwesen, der
Friedensbewegung, und v. a. vom demokratischen Staat
ab, der die friedliche gemeinsame Willensbildung befördert.
Grund ist erneut
der egozentrische Horizont, der keinen Sinn fürs
Gemeinsame
oder gar Selbstlosigkeit zulässt. Solidarität wird
oft
allenfalls unter letztlich Intoleranten wie der PEGIDA-Bewegung
gesucht. Der demokratische Dialog ist offenbar lästig und man
richtet
sich bequem im eigenen trivialen Weltbild ein, während
Enttäuschung
über Ignoranz der Politik vorgeschoben
erscheint.
13 Doch wer die Demokratie
nicht
nutzt, kann selbst
keine Solidarität von anderen erwarten. Mag auch der eigene
Wille nicht rasch politische Wirkung entfalten, so
steht jedem der Gang in die Institutionen offen, wie auch
eigener moderater Lobbyismus völlig legitim ist. Eine
Weltreligion pauschal vorzuverurteilen, fällt
gleichwohl nicht darunter. Vorurteile sind überdies
integrationsschädlich, denn wer will sich schon in
eine als feindselig empfundene, unsolidarische Gesellschaft integrieren?
Zugegeben, die etablierten Regierungsparteien stärken nicht
gerade die Demokratie, und dies nicht nur wegen
Missachtung des vorgeblich demokratisch legitimierten
europäischen oder nationalen Rechts. Einerseits
hängen diese ihrem eigenen
Weltbild nach, das sie v. a. nach Innen pflegen, anderseits bilden sie
nach
Außen eine Art Kartell, das ihnen den Platz im System
sichert. Dies äußert sich im Wiederkäuen
altbekannter Standpunkte, die zu Floskeln verkommen, und
wenig
Willen zum echten politischen Wettstreit. Sodann werden die
akuten
gesellschaftlichen Anliegen tatsächlich lange
ignoriert,
weswegen das Parlament nicht immer als Teil einer
Solidargemeinschaft
erscheint. Das nützt nun Populisten, die
opportunistisch die Themen besetzen. Doch wehe, ernsthafte
Konkurrenz zieht am Horizont auf.
Dann betreiben die Etablierten eine
rücksichtslose Zersetzung, wie bei den
Piraten, die zum Spielball linker Aktivisten wurden, oder der AfD,
deren sofortige Rechtsverortung die tatsächliche
Unterwanderung durch Rechte begünstigte. Weniger arrogante
Selbstgefälligkeit der politischen Eliten tut Not, damit die
Demokratie nicht weiteren Schaden nimmt.
Nur bei markerschütternden Ereignissen, wie
Terroranschlägen, tritt noch eine gesellschaftsweite
Solidarisierung auf. Mit Abstrichen trifft dies noch
für medial getragenen, kollektiven Erlebnisrausch zu, etwa der
Fußball-WM. Kollektivität ist aber sicher nicht Kern
der Solidarität. Ansonsten ist eine umgreifende
Entsolidarisierung quasi als Hobby zu beobachten.
Symptomatisch ist die Diskreditierung und
Diffamierung von anderen aus bloßer Gehässigkeit.
Hier mag das Satiremagazin Charlie Hebdo mit dessen
besonders provozierenden Karikaturen als Beispiel dienen. So
wenig dies die Anschläge gegen das Magazin
rechtfertigt, so wenig taugt die Haltung, es verteidige damit
die Freiheit. Zwar mag
Freiheit
auch Provokation zulassen, dennoch ist das Leitbild der Freiheit nicht,
jeden beleidigen
zu dürfen, um dann selbst zu bestimmen, was
hinnehmbar sei, sondern jeden zu tolerieren. Hier kommt die goldene
Regel, an sich
eine
Gerechtigkeitsformel, als zugleich solidarische Formel ins Spiel:
Füge keinem zu, was du nicht selbst erleidest
möchtest. Dagegen verstößt z. B.
auch das Christen-Bashing, egal gegen welches Geschlecht gerichteter
Sexismus, oder das Abstempeln von Flüchtlingen zu Menschen
zweiter Klasse.
Mangelnde Solidarität erwächst auch aus einer
Radikalität im Namen des Guten. Wer meint, der gute Zweck
heilige alle Mittel, verschreckt potentielle Mitstreiter, die sich
abwenden oder sogar zu Gegnern werden. Bezeichnend ist die Ignoranz
gegenüber Flüchtlingsleid infolge der damit
begründeten Forderung nach bedingungslos offenen
Grenzen und Hilfen für
alle
Zuzugswilligen. Auch
bloße Wohlfahrtssucher ohne Rücksicht auf
die
Ressourcen des eigenen Landes unbegrenzt aufnehmen zu wollen, ist aber
keine besonnene Forderung. Dies ist selbstverständlich kein
legitimer Grund, Notleidenden Hilfe zu verweigern, oder gar
gewalttätig zu werden. Radikalität im Namen des Guten
ist auch bei der Terrorbekämpfung auszumachen. Allzu
rücksichtslos durchgeführt trifft diese zu recht
nicht auf ungeteilte Zustimmung in Ländern mit unschuldigen
Opfern. Hier müssen sich die Kriegsführer fragen
lassen, ob sie überhaupt für die angeblich
verteidigten
Werte glaubwürdig einstehen und wieso sie auf diese Weise
weite Teile der Welt gegen den
„Westen“ aufwiegeln.
Europäische Einigung um jeden Preis wäre ein weiteres
Beispiel.
Zur Polarisierung der Gesellschaft bedarf es nicht einmal des
aktiven Wirkens von Radikalen. Der allseits beliebten
Wertezerstörung stellt die Profillosigkeit der
politischen Mitte nichts entgegen und so stoßen Sinnsuchende
auf keine positiv formulieren, verheißungsvollen und nicht
zuletzt glaubhaft vertretenen Botschaften mehr –
außer in radikalem Gedankengut. Gerade wenig gefestigte
Persönlichkeiten finden
Sinn darin, die Welt unversöhnlich in Gut und
Böse
bzw. Freud und Feind einzuteilen und danach zu handeln.
Aufruf
Eine Gesellschaft, die Freiheit für rein egoistische Zwecke
missbraucht, das
Recht auf Gleichbehandlung hierfür ausnutzt,
und sich in Wertezerstörung und sozialer Spaltung
austobt, hat keine besonders positiven Zukunftsaussichten. Sie gibt
aber auch ein schlechtes Bild ab. Ob für die eigene Jugend,
die keine Perspektiven sieht, Immigranten, die sich in ihren
Kulturkreis flüchten, oder die Welt, die den Respekt verliert.
Gerade den Herausforderungen einer zusehends multikulturellen
Realität kann man so nicht begegnen. Denn anstatt sich
für eine gemeinsame Wertebasis einzusetzen, werden
unversöhnliche Parallelgesellschaften geradezu
gefördert. Mit Resignation
14 kommt man
nun wohl kaum weiter.
Ebendarum ist eine Erneuerung der
Werte der Aufklärung unumgänglich. Freiheit mit
Rücksichtnahme, Gleichheit ohne Gleichere
und Solidarität über die eigene Interessensgruppe
hinaus, sollte die zu verkündende Botschaft sein. Die
Berufung
auf die Aufklärung ist an sich verzichtbar, sie motiviert aber
ungemein, wenn die damit überwundenen
Zustände illustriert
werden. Jedenfalls ist es
notwendig, wie eben erfolgt, 1. an den Sinngehhalt
der
Werte zu erinnern, 2. ihren rufschädigenden
Missbrauch anzuprangern, und 3. die alarmierenden Folgen ihrer
Verletzung aufzuzeigen. Gleichgesinnte sind
aufgefordert, mithilfe des angefügten
10-Punkte-Programms
und zugehöriger
Petition
für die Erneuerung
einzutreten, denn erst die
verheißungsvolle Botschaft der Aufklärung birgt den
Schlüssel
für eine versöhnliche Zukunft.
Dieses Plädoyer wurde im Laufe des Jahres
2015 unter
dem Eindruck des Zeitgeschehens erstellt.
Michael Zabawa
Königstein i. T. , 31.12.2015
_________
1
Erstmals durch
François Fénelon im
Roman Les Aventures de Télémaque von 1699 im
Zusammenhang genannt. Der bloß
„geläufige“
Kern ist
nicht unbedingt einzig repräsentativ. Oft werden
noch Humanität und Vernunft angeführt.
2 vgl. z. B. Art 3 EUV:
„Ziel
der Union ist es, den
Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu
fördern.“
3 Hier ist Marktfundamentalismus das Stichwort,
vgl.
Wikipedia-Artikel
hierzu.
4 Slavoj Žižek im Interview von Karin
Janker, "Merkel hat zu lange geblufft", SZ.de
20.10.2015,
Link
5 Hans Riebsamen, Burka-Verbot entzweit
Schwarz-Grün, FAZ.NET 27.02.2015,
Link
6 Peter Mühlbauer, Mobbing auf
Rundfunkgebührenzahlerkosten?, heise online 01.06.2015,
Link
7 Jan Fleischhauer, Der Schwarze Kanal: Nicht
lächeln beim Oralsex, Spiegel Online 28.04.2015,
Link
8 Völlige Angleichung erstickt
eigentlich nahezu alle
Freiheiten, weil
jedes Ausleben von Freiheiten den Gleichverteilungszustand sofort
stört. Bei den Begriffen Freiheit und Gleichheit liegen
tatsächlich Antinomien vor, siehe Gerhard Leibholz (Hrsg.),
Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Mohr (1974), S.
339 ff.
9
https://digitalegesellschaft.de/2014/09/bnd-verfassungsbruch/
10 Jan Fleischhauer, Der Schwarze Kanal:
Übergang in eine
neue Welt, Spiegel Online 17.06.2014,
Link
11 siehe Artikel „Eine Krankheit
namens Mann“;
spiegel.de/spiegel/print/d-28591080.html
12 Rieke Havertz, Diskussion um
„weißen
Mann“: Weiß auch nicht, taz.de
15. 11. 2012,
Link
13
spiegel.de/kultur/gesellschaft/sibylle-berg-ueber-pegida-und-die-aengste-der-deutschen-mittelschicht-a-1013119.html
14 So sei Freiheit totalitären
Gesinnungen unterlegen: Barbara Zehnpfennig, Freiheit mit
Maß, FAZ.NET 08.06.2015,
Link