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Europa braucht wieder eine Renaissance

Ein Plädoyer für die Erneuerung der Werte der Aufklärung

Europa braucht wieder eine Renaissance. Diesmal aber eine Wiedergeburt im Sinne der Erneuerung der Werte der Aufklärung. Deren Wurzeln liegen durchaus in der Renaissance, die auch das philosophische Denken beflügelte. Es schmerzt zu sehen, wie diese Frieden und Wohlergehen stiftenden Werte in jüngster Zeit mit den Füßen getreten werden. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind der geläufige Kern dieser Werte.1 Sie wurden ausgehend von der Französischen Revolution für das Volk hart erkämpft und später zur offiziellen Losung Frankreichs. Aber als eine griffige Formel der europa­weiten Aufklärung geraten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wie auch das deutsche Pendant Einig­keit und Recht und Freiheit, scheinbar ins Abseits, wo sie doch angesichts einer zusehends multikultu­rellen Realität als einigendes Band dringend gebraucht werden. Mag sein, dass im Namen dieser Werte Unheil verrichtet wurde, jedoch bleibt ihr positiver, überkulturell einsichtiger Sinngehalt unvergäng­lich, wie auch z. B. die Leuchtkraft der oft missbrauchten Liebe.

Wieso ein gemeinsames Hochhalten gerade dieser Werte entscheidend ist, wird deutlich werden, wenn zunächst an diesen Sinngehalt erinnert wird. Danach wird der Niedergang der drei Werte, deren Verwirklichung ohnehin niemals abgeschlossen war, samt der Gründe und dessen Folgen aufgezeigt.

Freiheit, Gleichheit, Solidarität

Mit Freiheit ist das ganze Spektrum des Rechts aus Selbstbestimmung angesprochen. Ange­fangen beim Freisein von erniedrigender Versklavung, über die Freiheit der Weltanschauung bis hinzu schlichter Unbe­kümmertheit, sodass man nicht aus Ängsten oder Konformitätsdruck an der Entfaltung der eigenen Person gehindert wird. Unter Gleichheit ist zunächst die Gleich­behandlung vor dem Gesetz gemeint, sodass hin­sichtlich gewährter Rechte Gleichberechtigung herrscht. Hierfür muss zum einen die Legislative unparteiisch, zum anderen die Justitia blind sein. Die gewährten Rechte zielen sodann auf eine soziale Wirklichkeit hin, in der eine gerechte Güter- sowie Lastenverteilung – soziale Gerechtigkeit – und Chancengleichheit vorliegen. Brüderlichkeit, geschlechtsneutral besser Solidarität genannt, stellt einen gesell­schaftlichen Schulterschluss dar. Sei dies das Einstehen für gemeinsame Interessen, die Hilfs­bereitschaft, oder bloß das Verständnis für andere, stets ist die menschliche Suche nach Gemeinsamkeiten bzw. gemeinsamen Werten der Antrieb, die auch Feinde einschließen kann.

Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind ihrem Wesen nach miteinander verwandt und bedingen einander. Zunächst verwirklicht sich Freiheit in Bezug auf die Teilhabe an Gütern und der Chancengleichheit. Entsprechende Freiheitsrechte bedürfen nun der tatsächlichen Gleichberechtigung, damit Menschen mit schlechterer Ausgangslage nicht das Nachsehen haben und etwa im Existenz­kampf verharren. Für Stärkere bedeutet dies Einschnitte (z. B. Kapitalbesteuerung), für Schwächere Zugeständnisse (z. B. Mietzuschuss). Der Einschnitte bedarf es auch unter Gleichstarken, denn dürften sie ungehemmt intolerant sein, drohen ebenso ausufernde Konflikte zu Lasten der Freiheit aller; nur Intoleranz selbst darf nicht toleriert werden. Solidarität hingegen kann eine gerechte Güter­verteilung herbeiführen und Gruppen zu Freiheit verhelfen. Viel wichtiger ist aber, dass solidarische Übereinkunft darüber herrscht, wo Grenzen der Freiheit sind, und dass Gleichheit, z. B. mithilfe des Rechtsstaats, auch durchzusetzen ist. Letztlich hängt von der Solidarität alles ab, weil diese die Gleichheit bedingt, die ihrerseits die Freiheit ermöglicht. Folglich werden dieselben Gründe, die der Solidarität schaden, auch bei den anderen Werten eine Rolle spielen.

Wie eingangs gesagt, zielen alle drei Werte letztlich gemeinsam auf Frieden und Wohlergehen als noch grundlegendere Werte menschlicher Existenz ab.2 Hierfür müssen Freiheit, Gleichheit und Solidarität nicht unbedingt maximal ausgeprägt sein. Auch ein aufgeklärter Absolutismus oder ein weiser König Salomon vermag sich für Frieden und Wohlergehen zu verbürgen und das Wohlwollen des Volkes gewinnen, in dem die drei Werte ausreichend berück­sichtigt werden. Wenn aber wie im vorrevolutionären Frankreich Unfreiheit vorherrscht, Unrecht regiert und es an Solidarität mangelt, sind Frieden und Wohlergehen nun einmal utopisch und Aufstände nahezu zwangsläufig.

Dem Ideal einer Gesellschaftsform dürfte indessen eine freiheitliche, egalitäre und soziale Demokratie am nächsten kommen. Nicht nur knüpft diese unmittelbar an der Wertetrias an, als Demokratie bindet sie zudem friedenssichernd die Regierung an den Volkswillen. Vor diesem Hintergrund sind die zu erörternden Bedrohungen für die Werte der Aufklärung auch immer als Bedrohung der Gesellschaftsform in Deutsch­land, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, zu sehen, die auf dem Boden der Aufklärung steht.

Die Wertetrias auf dem Rückmarsch

Freiheit ist immer dort bedroht, wo sich Intoleranz aus­breitet. Diese ist in allen radikalen Kreisen vorzu­finden, so bei politischen Links- oder Rechtsradikalen, religiösen Fundamentalisten, oder rücksichtslos auf Eigennutz bedachten Interessensgruppen. Extremisten meinen gar, anderen ihr Recht auf Leben abspre­chen zu können, wie die NSU-Mörder oder religiöse Fanatiker. Allen Gruppen gemein sind ein gewisser Egoismus und ein selbstgerechtes Weltbild, woraus auch ohne Fanatismus allseits freiheitsberau­bende Konflikte erwachsen. Diese bereits erwähnte altbekannte Einsicht haben offenbar auch die radikalliberalen Homo-oeconomicus-Anbeter vergessen. Anstatt die Freiheit in all ihren Facetten zu vertei­digen, predigen sie einen ungezügelten Markt mit egoistischen Akteuren als Allheilmittel und nehmen so die Unter­drückung Schwächerer in Kauf. Schlimmer noch, ihre Gunst gilt den größten Nutznießern: Kapitaleigner.3

Von der Denkweise der Radikalliberalen wurden inzwischen auch andere befallen. So gehören ökonomi­sche Aspekte, was Arbeitsplätze, Sozialleistungen oder Wohlstand angeht, zum Standardrepertoire rechter Argumentation. Ähnlich ökonomisch getrieben erscheinen manche Linken, wenn sie z. B. beim Aufzeigen vermeintlicher Ungleichheit jede noch so kleine Diskrepanz einseitig aufgreifen und als mone­tären Nach­teil beziffern wollen. Zweifellos ist die gesellschaftliche Mitte ebenso infiziert. Karriereoptimierung, Materialis­mus, Konkurrenzdenken und Neid sind wesentliche Motive im Leben des Durchschnittsbürgers. Nicht nur fördert dies Konflikte, zudem erfolgt eine Selbstversklavung im Kerker des Egozentrismus.

Unter Intoleranten befindet sich die populistische Rechte im merklichen Aufschwung. Zwar sind rechts­populistische Regierungen noch die Ausnahme in europäischen Staaten, dennoch verheißt ein weiteres Erstarken der sich rassistisch, homophob, nationalistisch und rundum rückständig gebenden Rechtspopu­listen nichts Gutes für freiheitliche Errungenschaften. Paradoxerweise ist die europäische Einigung eine wesentliche Ursache für deren Erstarken, die doch für Völkerverständigung und Freiheiten wie grenzen­loser Handel oder Personenfreizügigkeit steht. Der Einigungsprozess steht, da zu überstürzt und ohne Vertragstreue angegangen, aber zunehmend auf der Kippe, denn die politische Elite läßt zu oft berechtigte Kritik abprallen oder gibt sich hilflos, was den mit der nationalen Karte winkenden Rechten nutzt.

Zu beobachten ist das zaghafte Entgegen­treten der Intoleranz, die aus anderen Kulturkreisen entstammt. Hier stehen manche „sentimentalen Linken“4 im Weg, die vor lauter Gutgläubigkeit oder aus Angst, selbst intolerant zu sein, sich blind stellen oder gar berechtigte Kritik bekämpfen. Hieraus erklärt sich etwa, zumindest teilweise, die langjährige Untätigkeit der britischen Justiz im Falle des Vergewaltiger­rings mit ethischem Hintergrund oder die Hinnahme der Vollverschleierung von Frauen, obgleich diese entwür­digend sei.5 Die Würde der Frau muss offenbar grenzenloser Toleranz weichen. Überhaupt breitet sich ein Kulturrelativismus aus, der auch die Werte der Aufklärung infrage stellt. Es stimmt schon, damit nicht die ganze Welt anmaßend bekehren zu müssen, denn auch andere haben ihre kulturellen Errungenschaften. Aber wenigstens Toleranz und Respekt, die anderen entgegengebracht werden, von diesen nicht einzu­fordern, entbehrt jeglicher überzeugender Begründung. Eher steckt feige Beqeumlichkeit dahinter.

Parallel zum Erstarken der Intoleranz wird mit Killerphrasen à „wer nicht mit uns ist, ist ein Rassist/Sexist/Phobiker/Gutmensch/Volks­verräter“ die besonnene Mitte angefeindet. Jeder radikalen Seite ist diese nicht nah genug bzw. wird gleich verleumderisch in die Nähe der Gegenseite gerückt, und dies bereits, sobald auch nur der Hauch von Kritik geäußert wird. Schlimmer noch, regelmäßig sehen sich Vertreter gemäßigter Ansichten Morddrohungen ausgesetzt, so neulich Befürworter von Flüchtlingsheimen oder Kritiker des radikalen Feminismus6. Sodann verstummen viele der Gemäßigten lieber und die Meinungs­freiheit bleibt auf der Strecke. Bezeichnend für die Schwächung der Mitte sind auch gemeinsame Standpunkte an sich konträrer radikaler Seiten. Beispielsweise spielt die folgende Forderung radikaler Feministinnen den Islamisten in die Karten: Werbung möge frei von Sexismus sein, wozu aber nicht nur das Ablehnen figurbetonter Posen u. ä. gezählt wird, was noch verständlich ist, sondern auch das grundlose Lächeln einer Frau.7 Verhilft nicht doch etwa die Vollverschleierung Frauen überhaupt erst zur Würde?

Gleichheit steht dann auf dem Spiel, wenn ein fairer Ausgleich berechtigter Interessen ausbleibt. Der Trend zur egoistischen Selbstbevorzugung, der bereits die Freiheit auch direkt bedrohende Faktor, ist da kaum hilfreich. Maß der Gleichheit ist die Güter- und Lastenverteilung. Völlige Gleichverteilung durch Verzicht auf Eigeninteressen ist individuell besehen nun auch nicht gerecht,8 nicht minder ungerecht ist aber ein starkes Reich-Arm-Gefälle mit deutlichen Aufstiegshürden. Der Ruf nach einem rigoros umver­teilenden Wohlfahrtsstaat ist daher abzulehnen, ebenso aber auch das Anzweifeln jeglichen sozialstaat­lichen Ausgleichs, jedenfalls solange auch Leistungsbereitschaft belohnt wird, was die unabkömmliche Wertschöpfung sichert. Zur jeweiligen Kritik gesellt sich eine Bedienungsmentalität bzw. mangelnde Teilungsbereitschaft und so wird soziale Gerechtigkeit erschwert.

Wie soziale Gerechtigkeit so leidet auch der Rechtsstaat, der diese und die Gleichheit überhaupt garantiert, an mangelndem Rückhalt. Wiederum sind es egoistische Auswüchse wie reine Klientelpolitik, Autoritäten­hass oder allwährende Vorteilssuche, die zur Ausnutzung oder Missachtung des Rechtssystems führen. Derartige Zustände fördern sodann einen allgemeinen Vertrauensverlust – ein circulus vitiosus. Jedoch ist der Staat daran nicht ganz unschuldig. Verfassungsbrüche, etwa im Falle der Spionage für fremde Geheim­dienste,9 und überwachungsstaatliche Tendenzen tragen dazu wesentlich bei.

Eigennutzstreben an sich muss durchaus noch nicht in Benachteiligung anderer münden, selbst wenn eine intole­rante Haltung damit einhergeht. Führt dies dennoch dazu, liegt Diskriminierung vor. Nebst Egoismus oder Intoleranz können aber auch bloße Unachtsamkeit oder situative Umstände ursächlich sein. Ein probates Gegenmittel sind jedenfalls Quoten, die unfaire Hürden überwinden helfen. Leider schießen die gängigen einseitigen Quoten übers Ziel hinaus. Statt Frauenquote wäre etwa eine Mindestquote für beide Geschlechter ausgewogener, die in der Praxis weiterhin Frauen zugute käme. Bevorzugung zwecks Chan­cengleichheit ist fraglos legitim, diese aber pauschal bestimmten Gruppen zuzugestehen und anderen stets unfaire Vorteile zu unterstellen (Positivdis­kriminierung), ist ungerecht und lässt die Bevorzugten zu „Glei­cheren“ unter Gleichen werden. Individuelle oder neutralere Ansätze zumal des Gesetzgebers sind gefragt.

Nicht nur bei der Güterverteilung kann die absolute Gleichsetzung von Menschen keine vernünftige Maß­gabe sein. Natürliche Ungleichheiten rechtfertigen Ungleichbehandlungen, wie z. B.Vorrang der Rettung von Kindern, oder die Rücksichtnahme auf Behinderte, die keineswegs diskriminierend ist, wie manche Gleichheitsfanatiker meinen.10 Entscheidend ist, dass Chancengleich­heit und würdevoller Umgang herr­schen und zumindest die Justitia blind ist. Beheben oder Verneinen jeglicher individueller Unterschiede in allen Lebensbereichen würde ja geradezu die Toleranz von Vielfalt pervertieren. Letztlich obliegt dem ge­sellschaftlichen Konsens, was gleich und ungleich zu behandeln ist, die Radikalpositionen (z. B. Abstreiten aller natürlichen Geschlechterunterschiede vs. Biologismus) sollten jedenfalls ausgeklammert werden.

Ärger Feind der Gleichheit ist die revanchistische Diskriminierung, womit ein unnüt­zer Kreislauf am Leben gehalten wird. Ein Beispiel ist das Abstempeln von Männern zu rein triebgesteuer­ten, gar von Natur aus bösen Wesen, vor denen die genetisch edleren Frauen zu schützen seien.11 Dies ist jedoch derselbe radikale Biologismus, der einst Frauen an Heim und Herd band. Als Konsequenz hat der Feminismus kaum männliche Anhänger und so hält die Übersexualisierung der Frau unvermindert an, siehe z. B. die sexy Weihnachtsfrau, die Einzug gehalten hat. Zudem werden wie gesagt manche machohaften Parallelkulturen dank blinder Toleranz mit Samthandschuhen angefasst. Wie auch beim Kulturrela­tivismus spielt hier das Feindbild des „weißen Mannes“ hinein, der freilich allen Grund für dessen Entstehung lieferte. Nunmehr gilt aber alles, was mit ihm assoziiert wird, etwa das hiesige Wertesysten, bei Bedarf als anrüchig. Letztlich ist dies selbst eine diskriminierende Haltung.12 Passend dazu führen relativ harmlose Verfehlungen seinesgleichen wie bei Tim Hunt zu völliger Überreaktion. Beklagenswert ist auch die Über­nahme oder Verharmlosung von Falschbeschuldi­gungen, nur weil diese Klischees bestätigen. Das Leid der zu unrecht Beschuldigten wird mit zunehmender Skepsis echten Opfern gegenüber teuer bezahlt.

Wer sich und seine Werte übertrieben anzweifelt, folglich Intoleranz seitens der Protegés duldet, Andere als diese aber vorschnell beschuldigt und verurteilt, und jede Kritik daran harsch anfeindet, dem liegt eine echte Gleichheit unter Menschen wohl kaum am Herzen. Wollte man damit auch nur „ungleicher“ sein, um Anderen zugefügtes Unrecht gutzumachen, so bleibt es dabei, Unrecht durch Unrecht heilen zu wollen.

Solidarität ist ebenfalls auf dem Rückzug. Anstatt zusammen für Frieden und Zukunft einzutreten, wen­den sich breite Gesellschaftsteile vom Gemeinwesen, der Friedensbewegung, und v. a. vom demokrati­schen Staat ab, der die friedliche gemeinsame Willensbildung befördert. Grund ist erneut der egozentrische Horizont, der keinen Sinn fürs Gemeinsame oder gar Selbstlosigkeit zulässt. Solidarität wird oft allenfalls unter letztlich Intoleranten wie der PEGIDA-Bewegung gesucht. Der demokratische Dialog ist offenbar lästig und man richtet sich bequem im eigenen trivialen Weltbild ein, während Enttäuschung über Ignoranz der Politik vorgeschoben erscheint.13 Doch wer die Demokratie nicht nutzt, kann selbst keine Solidarität von anderen erwarten. Mag auch der eigene Wille nicht rasch politische Wirkung entfalten, so steht jedem der Gang in die Institutionen offen, wie auch eigener moderater Lobbyismus völlig legitim ist. Eine Weltre­ligion pauschal vorzuverurteilen, fällt gleichwohl nicht darunter. Vorurteile sind überdies integrationsschäd­lich, denn wer will sich schon in eine als feindselig empfundene, unsolidarische Gesellschaft integrieren?

Zugegeben, die etablierten Regierungsparteien stärken nicht gerade die Demokratie, und dies nicht nur we­gen Missachtung des vorgeblich demokratisch legitimierten europäischen oder nationalen Rechts. Einerseits hängen diese ihrem eigenen Weltbild nach, das sie v. a. nach Innen pflegen, anderseits bilden sie nach Außen eine Art Kartell, das ihnen den Platz im System sichert. Dies äußert sich im Wiederkäuen altbekannter Stand­punkte, die zu Floskeln verkommen, und wenig Willen zum echten politischen Wettstreit. Sodann werden die akuten gesellschaftlichen Anliegen tatsächlich lange ignoriert, weswegen das Parlament nicht immer als Teil einer Solidargemeinschaft erscheint. Das nützt nun Populis­ten, die opportunistisch die Themen beset­zen. Doch wehe, ernsthafte Konkurrenz zieht am Horizont auf. Dann betreiben die Etablierten eine rück­sichtslose Zersetzung, wie bei den Piraten, die zum Spielball linker Aktivisten wurden, oder der AfD, deren sofortige Rechtsverortung die tatsächliche Unterwanderung durch Rechte begünstigte. Weniger arrogante Selbstgefälligkeit der politischen Eliten tut Not, damit die Demokratie nicht weiteren Schaden nimmt.

Nur bei markerschütternden Ereignissen, wie Terroranschlägen, tritt noch eine gesell­schaftsweite Solidari­sierung auf. Mit Abstrichen trifft dies noch für medial getragenen, kollektiven Erlebnisrausch zu, etwa der Fußball-WM. Kollektivität ist aber sicher nicht Kern der Solidarität. Ansonsten ist eine umgreifende Ent­solidarisierung quasi als Hobby zu beobachten. Symptomatisch ist die Diskreditierung und Diffamierung von anderen aus bloßer Gehässigkeit. Hier mag das Satiremagazin Charlie Hebdo mit dessen besonders provozierenden Karika­turen als Beispiel dienen. So wenig dies die Anschläge gegen das Magazin rechtfer­tigt, so wenig taugt die Haltung, es verteidige damit die Freiheit. Zwar mag Freiheit auch Provokation zulassen, dennoch ist das Leitbild der Freiheit nicht, jeden beleidigen zu dürfen, um dann selbst zu bestimmen, was hinnehmbar sei, sondern jeden zu tolerieren. Hier kommt die goldene Regel, an sich eine Gerechtigkeitsformel, als zugleich solidarische Formel ins Spiel: Füge keinem zu, was du nicht selbst erleidest möchtest. Dagegen verstößt z. B. auch das Christen-Bashing, egal gegen welches Geschlecht gerichteter Sexismus, oder das Abstempeln von Flüchtlingen zu Menschen zweiter Klasse.

Mangelnde Solidarität erwächst auch aus einer Radikalität im Namen des Guten. Wer meint, der gute Zweck heilige alle Mittel, verschreckt potentielle Mitstreiter, die sich abwenden oder sogar zu Gegnern werden. Bezeichnend ist die Ignoranz gegenüber Flüchtlingsleid infolge der damit begründeten Forde­rung nach bedingungslos offenen Gren­zen und Hilfen für alle Zuzugswilligen. Auch bloße Wohlfahrts­sucher ohne Rücksicht auf die Ressourcen des eigenen Landes unbegrenzt aufnehmen zu wollen, ist aber keine besonnene Forderung. Dies ist selbstverständlich kein legitimer Grund, Notleidenden Hilfe zu verweigern, oder gar gewalttätig zu werden. Radikalität im Namen des Guten ist auch bei der Terrorbekämpfung auszumachen. Allzu rücksichtslos durchgeführt trifft diese zu recht nicht auf ungeteilte Zustimmung in Ländern mit unschuldigen Opfern. Hier müssen sich die Kriegsführer fragen lassen, ob sie überhaupt für die angeblich verteidigten Werte glaubwürdig einstehen und wieso sie auf diese Weise weite Teile der Welt gegen den „Westen“ aufwiegeln. Europäische Einigung um jeden Preis wäre ein weiteres Beispiel.

Zur Polarisierung der Gesellschaft bedarf es nicht einmal des aktiven Wirkens von Radikalen. Der allseits beliebten Werte­zerstörung stellt die Profillosigkeit der politischen Mitte nichts entgegen und so stoßen Sinnsuchende auf keine positiv formulieren, verheißungsvollen und nicht zuletzt glaubhaft vertretenen Bot­schaften mehr – außer in radikalem Gedankengut. Gerade wenig gefestigte Persönlichkeiten finden Sinn darin, die Welt unversöhnlich in Gut und Böse bzw. Freud und Feind einzuteilen und danach zu handeln.

Aufruf

Eine Gesellschaft, die Freiheit für rein egoistische Zwecke missbraucht, das Recht auf Gleich­be­handlung hierfür ausnutzt, und sich in Wertezerstörung und sozialer Spaltung austobt, hat keine besonders positiven Zukunftsaussichten. Sie gibt aber auch ein schlechtes Bild ab. Ob für die eigene Jugend, die keine Perspektiven sieht, Immigranten, die sich in ihren Kulturkreis flüchten, oder die Welt, die den Respekt verliert. Gerade den Heraus­forderungen einer zusehends multikulturellen Realität kann man so nicht begegnen. Denn anstatt sich für eine gemeinsame Wertebasis einzu­setzen, werden unversöhnliche Parallelgesellschaften geradezu gefördert. Mit Resignation14 kommt man nun wohl kaum weiter.

Ebendarum ist eine Erneuerung der Werte der Aufklärung unumgänglich. Freiheit mit Rücksichtnahme, Gleichheit ohne Gleichere und Solidarität über die eigene Interessensgruppe hinaus, sollte die zu verkündende Botschaft sein. Die Berufung auf die Aufklärung ist an sich verzichtbar, sie motiviert aber ungemein, wenn die damit überwundenen Zustände illustriert werden. Jedenfalls ist es notwendig, wie eben erfolgt, 1. an den Sinngehhalt der Werte zu erinnern, 2. ihren rufschädigenden Missbrauch anzuprangern, und 3. die alarmierenden Folgen ihrer Verletzung aufzuzeigen. Gleichgesinnte sind aufgefordert, mithilfe des angefügten 10-Punkte-Programms und zugehöriger Petition für die Erneuerung einzutreten, denn erst die verheißungsvolle Botschaft der Aufklärung birgt den Schlüssel für eine versöhnliche Zukunft.

Dieses Plädoyer wurde im Laufe des Jahres 2015 unter dem Eindruck des Zeitgeschehens erstellt.

Michael Zabawa
Königstein i. T. , 31.12.2015

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1
Erstmals durch François Fénelon im Roman Les Aventures de Télémaque von 1699 im Zusammenhang genannt. Der bloß „geläufige“ Kern ist nicht unbedingt einzig repräsentativ. Oft werden noch Humanität und Vernunft angeführt.
2 vgl. z. B. Art 3 EUV: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“
3 Hier ist Marktfundamentalismus das Stichwort, vgl. Wikipedia-Artikel hierzu.
4 Slavoj Žižek im Interview von Karin Janker, "Merkel hat zu lange geblufft", SZ.de 20.10.2015, Link
5 Hans Riebsamen, Burka-Verbot entzweit Schwarz-Grün, FAZ.NET 27.02.2015, Link
6 Peter Mühlbauer, Mobbing auf Rundfunkgebührenzahlerkosten?, heise online 01.06.2015, Link
7 Jan Fleischhauer, Der Schwarze Kanal: Nicht lächeln beim Oralsex, Spiegel Online 28.04.2015, Link
8 Völlige Angleichung erstickt eigentlich nahezu alle Freiheiten, weil jedes Ausleben von Freiheiten den Gleichverteilungszustand sofort stört. Bei den Begriffen Freiheit und Gleichheit liegen tatsächlich Antinomien vor, siehe Gerhard Leibholz (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Mohr (1974), S. 339 ff.
9 https://digitalegesellschaft.de/2014/09/bnd-verfassungsbruch/
10 Jan Fleischhauer, Der Schwarze Kanal: Übergang in eine neue Welt, Spiegel Online 17.06.2014, Link
11 siehe Artikel „Eine Krankheit namens Mann“; spiegel.de/spiegel/print/d-28591080.html
12 Rieke Havertz, Diskussion um „weißen Mann“: Weiß auch nicht, taz.de 15. 11. 2012, Link
13 spiegel.de/kultur/gesellschaft/sibylle-berg-ueber-pegida-und-die-aengste-der-deutschen-mittelschicht-a-1013119.html
14 So sei Freiheit totalitären Gesinnungen unterlegen: Barbara Zehnpfennig, Freiheit mit Maß, FAZ.NET 08.06.2015, Link

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